Montag, 20. April 2009

Einleitung

von Martin Thomson

0700548


1. Der Mord beginnt im Bild

In "Minority Report" erzeugt erst der Apparat selbst eine Zukunft, die er zu verhindern beabsichtigt. Erst das Sehen der eigenen Mordtat bringt die Ereignisse so ins Laufen, dass der Versuch ihn zu verhindern Anderton nur weiter in die Arme seines Opfers treiben kann. Indem der moralische Zerfall in der Zukunft vorausgesehen wird, kann er durch moralisches Handeln abgewendet werden. Der Mensch ist nicht länger hilfloses Opfer seines vorherbestimmten Schiksals sondern kann eigenmächtig entscheiden. Die Frage, die es hier zu untersuchen gilt, muß lauten, inwiefern Überwachung durch den Umstand, daß sie das eigene moralische Versagen präsent hält, eben auch dazu beiträgt, es zu verhindern. Wenn überall Kameras sind, die einem das Gefühl suggerieren man könne ein Verbrecher sein, wie groß ist dann der Widerstand sich diesem aufoktroyierten Verdacht zu widersetzen? Oder provoziert eben genau diese unnahbare Autorität erst eine verheerende Abwehrhaltung, die das Verbrechen dann zum Widerstand gegen die Moral umwertet? Das Bild fixiert den Ausschnitt einer Wirklichkeit, die erst mittels ihrer Sichtbarwerdung zu dieser wird. Wenn das Verbrechen nicht gesehen wird, hat es dann überhaupt stattgefunden? Vom Standpunkt der Justiz aus, kann nur verurteilt werden, wer sich mittels unwiederbringlicher Beweise als Täter herausstellt. Beginnt Mord also erst in der Kamera oder eben im Precrime - Apparat? Also praktisch mit dem Bild?


2. Das Böse in der Reproduktion

Anhand zweier Texten des Kulturphilosophen Boris Groys werde ich untersuchen inwiefern Philip K. Dick mit seiner Kurzgeschichte und Steven Spielberg mit dessen filmischer Adaption umsetzen, was Groys in Analogie zur Darstellung der Stasi in dem Film "Das Leben der Anderen" als "Utopie des perfekten Beobachters" beschreibt 1 und worauf er anspielt, wenn er in seinem Text zu Spielbergs Film herausstellt, dass nicht die "faktischen" sondern die "prophetischen Bilder" als die authentischeren wahrgenommen werden, weil sie "mit keiner Wirklichkeit verglichen und dadurch nicht in Zweifel gezogen werden können". 2 Inwiefern verschafft "Minority Report" vielleicht auch darüber Aufschluss welches Potential an Totalitarismus im Bild bzw. im Akt seiner Reproduktion verborgen liegt und inwiefern wird Anderton dadurch zum Helden, dass er die Utopie als Utopie belässt, wenn er letztlich deren Umsetzung verhindert?


3. Demokratisierte Überwachung

Wer sich den Erfolg vom Web 2.0. und die an ihr geknüpfte Freiwilligkeit zur offensiven Sichtbarmachung der eigenen Person beobachtet, wird nicht umhin kommen als Tendenz unserer Gegenwartsgesellschaft zu erkennen, dass Überwachung längst nicht mehr von außen in uns eindringt, sondern der Sehnsucht nach Aufhebung der eigenen Unbedeutsamkeit in der westlichen, demokratisch organisierten Welt entspricht, denn, wie auch Groys schreibt, "de facto genießt man diese Beobachtung". 3

Inwiefern birgt also Demokratie auch den Drang nach Überwachung? Pervertieren Web-Foren wie StudiVZ, Facebook oder Myspace den vormals mit Installation eines höher stehenden Staatsapparates konnotierten Begriff der Überwachung, indem sie ihn demokratisieren und marktwirtschaftlich nutzbar machen? Lässt sich noch von Freiwilligkeit sprechen, wenn das Funktionieren des sozialen Lebens davon abhängt, dass die eigene Sichtbarmachung in Kauf genommen wird? Kreiert die Option sich virtuell zu entblößen, sich überwachbar zu machen erst den Wunsch oder ist die Option Konsequenz dieses Wunsches?

Im Zusammenhang mit der Schulddebatte um das Dritte Reich ist immer wieder diskutiert worden, ob die Nationalsozialisten lediglich bereits vormals in der Bevölkerung bestehenden Aggressionen die Legitimation zu ihrer barbarischen Auslebung verschafft haben, oder ob sie jene erst kreierten. Dieses Beispiel mag im Zusammenhang zur Überwachungsthematik weit hergeholt sein, eröffnet aber bei genauerer Betrachtung eine aufschlussreiche Auseinandersetzung mit einer fundamentalen moralischen Fragestellung, die auch in "Minority Report" verhandelt wird: Kann ein System unmoralisch sein, das unmoralisches Handeln legitimiert, mehr noch, das es als moralisch ausgibt?

Wie auch Groys feststellt, ist der Bösewicht in "Minority Report" paradoxerweise "der klassische Idealist und Träumer, der letztendlich völlig uneigennützig handelt, um Sicherheit und Wohlstand für alle zu garantieren - und die utopische Prophetie in die Tat umzusetzen." 4 Den Mitgliedern einer sich selbst als aufgeklärt betrachtenden Gesellschaft erscheint das in "Minority Report" vorgestellte Präventiv - System wahrscheinlich unvereinbar mit ihren Grundwerten, erstaunlicherweise entspringt es jedoch einer Motivation, die jede demokratische Verfassung garantiert: Sicherheit und Wohlstand.


4. Gegenwart/Dystopie-Dialektik im amerikanischen Science - Fiction - Film

In diesem Zusammenhang interessant erscheint mir auch eine Beschäftigung mit dem Ausstattungsdesign von Science - Fiction - Filmen. Wurden vor "Minority Report" gegenwartsfremde Welten entworfen, läßt sich Spielbergs Film auch als genreästhetischer Paradigmensprung betrachten, in dessen Fahrwasser Regisseure wie Michael Winterbottom mit "Code 46" oder Alfonso Cuáron mit "Children of Men" Architektur, Kleidung oder Sprache aus der Jetztzeit in weniger auffällig fremdartigen Zukunftsvisionen integrierten. Bilden die gar nicht mehr auffällig von unserer Gegenwart unterscheidbaren Welten, die hier ausgestellt werden, nicht eine bereits partiell sichtbar gewordene Wirklichkeit unserer Tage ab?

Die Einleitungssequenz aus "Children of Men", in der hinter dem nichts ahnenden Protagonisten beiläufig ein Restaurant mittels eines Bombenattentats in die Luft fliegt erzielt genau deswegen eine so beträchtliche Schockwirkung, weil hier "die prophetischen Bilder", genau wie es Boris Groys im Zusammenhang mit "Minority Report" beschreibt, als genauso wirklich empfunden werden, wie vielen "die faktischen Bilder" vom 11. September unwirklich erschienen. 5 Eine andere These von Boris Groys, der er in seinem Werk "Unter Verdacht" nachgeht, erscheint mir hier würdig untersucht zu werden, eröffnet sie doch eine aufschlussreiche Ursachenforschung in Bezug auf den Wechselprozess zwischen Bildern und Verschwörungstheorien: "Der Verdacht kann niemals entkräftet, abgeschafft oder untergraben werden, denn der Verdacht ist für die Betrachtung der Oberfläche konstitutiv: Alles, was sich zeigt, macht sich verdächtig." 6



1 Boris Groys, „Unter dem Blick des Anderen“, Schnitt-Das Filmmagazin, 47, Oktober 2007, S. 82.

2 Boris Groys, „Der Gentleman und der Weltgeist“, Groysaufnahme, Köln: Schnitt 2007, S. 64 (Orig. Schnitt-Das Filmmagazin, Januar 2003).

3 Groys, „Unter dem Blick des Anderen“, S. 82.

4 Groys, „Der Gentleman und der Weltgeist“, S. 64.

5 Vgl. Ebenda, S. 64.

6 Boris Groys, Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien, Hanser: München/Wien 2000, zit. nach Niels Werber, „Abgrund an Verrat. Der neue Elementarteilchenroman“, taz, 6145, Mai 2000, S. 15.