Dienstag, 30. Juni 2009

Auch wenn Offiziell schon Schluß ist....

...möchte ich doch gerne den lieben Lesern noch ein paar Gedanken zum Thema Überwachung mit an die Hand geben.
Schließlich nimmt auch in unserem täglichen Leben die reale Überwachung immer mehr überhand.
In Österreich findet Überwachung in erster Linie dort statt, wo sie der öffentlichen Sicherheit dient, also zum Beispiel in U-Bahnen oder auch Kaufhäusern.
Diese Maßnahme dient einerseits der präventiven Abschreckung, sodass mögliche Verbrechen erst gar nicht begangen werden sollen.
Allerding haben solche Maßnahmen auch den Zweck, bei der Aufklärung von Verbrechen die nötigen Beweise zur Überführung des mutmaßlichen Täters zu liefern. Da in unserem Rechtssystem weiterhin der Grundsatz gilt: Unschuldig bis die Schuld bewiesen ist.
Sicher ist: ohne Überwachungssysteme (ich beziehe mich hierbei in erster Linie auf Überwachungskameras), könnten viele stattfindende Verbrechen, vom Ladendiebstahl, über Körperverletzung, bis hin zu Mord, niemals aufgeklärt werden.
Wo ist jedoch die Grenze? Wo fängt die Privatsphäre des Einzelnen an und ist auch als solche zu schützen? Und wann darf oder muss sogar in diese Privatsphäre eingedrungen werden?
Nehmen wir das Beispiel des letztes Amoklaufes an einer Schule in Süddeutschland. In den Nachrichten wurde nicht nur das Wohnhaus des Täters gezeigt, sondern auch sein voller Name und der Arbeitsplatz seines Vaters genannt.
Der Täter hatte sich selbst umgebracht, so waren die Hinterbliebenen die Leidtragenden dieser Medialen Ausschlachtung.
Die Frage hierbei ist: War die Familie des Täters in diesem speziellen Fall nicht selbst schützenswert? Was ist wichtiger: Menschen in ihrer Trauer und ihren Schulgefühlen in Ruhe zu lassen oder hat die Öffentlichkeit ein Recht darauf Menschen die höchstwahrscheinlich nichts für die Taten ihre Sohnes konnten, zu kennen und damit auch anprangern zu können?
Sicher ist nur: Das Phänomen der Überwachung ist eines, das aus unserer Gesellschaft nicht mehr wegzudenken ist, da sie zwar oft unangenehme Auswüchse nimmt, aber dennoch zu unserem Sicherheitsgefühl beiträgt.
Zum Abschluss noch ein Verweis auf einen Link:
http://magazine.web.de/de/themen/wissen/mensch/8147030-Der-Todesbefehl-kommt-per-Satellit.html
Dort findet ihr einen Artikel der sicher nach dem Geschmack von Philip K. Dick gewesen wäre.
Er handelt von einem Chip der kürzlich zum Patent angemeldet wurde.
Dieser Mikrochip ermöglicht es Menschen per Satellit zu überwachen und sie so auch auf Knopfdruck töten zu könnnen.
Viel Spass damit und noch einen schönen Abend....

Paycheck: 30/06/09 – Noch ein Fazit

Was kann hier zusammenfassend noch gesagt werden? Von Freiheit und Kontrolle über Sicherheit und Überwachung bis hin zu Vorhersehung und Zensur: es waren durchwegs große, ja wahrhaft titanische Begriffe, die in diesem Blog angesprochen wurden. Dass die Behandlung derer dabei bruchstückhaft geblieben ist, liegt auf der Hand; ich hoffe trotzdem, dass ich die Gedanken, die mich beschäftigten, einigermaßen klar auszudrücken vermochte und die Einträge annähernd erträglich zu lesen sind.

Eines ist am Ende gewiss: Der Faktor der Überwachung behindert den Menschen in der Entfaltung seiner Individualität. Ich verweiße an dieser Stelle immer wieder gerne auf die Tatsache, dass es in der deutschen Sprache kein einziges Wort gibt, welches sich auf „Mensch“ reimt. Das mag nun nicht unbedingt eine spektakuläre Erkenntnis sein, aber es ist doch ein nettes Zeichen dafür, dass der Mensch auf Einzigartigkeit getrimmt ist. Die Menschen können nur in ihrer Unterschiedlichkeit voneinander bestehen. Verfällt die Eigenheit, verfällt auch das Menschsein.


Mit diesem letzten Gedanken will ich den Blog dann auch schließen und mich bei Martin für seine Zusammenarbeit bedanken.

Ein Dankeschön geht natürlich auch an jeden, der diesen Blog verfolgt haben sollte und den ich mit meinen Einträgen vielleicht zum Nachdenken anregen konnte.


Ich für meinen Teil mach die Augen zu, lass die Zeit aus ihren Fugen geraten, dreh das Radio auf, genieße den Tag und zieh mich in andere Welten zurück, wo ich von elektrischen Schafen träume.


Constantin Schwab



Sonntag, 28. Juni 2009

Überwachung 2.0

Werfen wir noch einmal einen Blick in die Vergangenheit: in einer längst vergangenen Zeit, einer Zeit, die den meisten nur noch verschwommen und wage in Erinnerung schwebt, einer Zeit, in der das Wort Reality-TV noch nicht erfunden war – ganz recht, ich spreche natürlich von den Neunzigern. Genauer gesagt schreiben wir das Jahr 1998, als ein visionärer Film in die Kinos kommt, der Kritik und Publikum begeistert und auch heute noch aktuell wie nie erscheint: The Truman Show von Peter Weir. Ein Film über einen Mann, der unwissentlich der Star einer Fernsehshow ist, welche ihn ununterbrochen filmt (Weir 2003). Es geht also um die permanente Überwachung eines Einzelnen, der in einer gestellten, nur für ihn erschaffenen Welt lebt, in der nichts echt ist.

Aber Moment. War da nicht noch etwas? Bereits im Jahr 1959 veröffentlicht ein damals noch recht junger Science-Fiction-Autor, dessen Name in diesem Blog bereits einige Male Erwähnung fand, ein Buch mit dem Titel Time Out of Joint. Eines von Philip K. Dicks Frühwerken ist zugleich einer seiner Klassiker, und nicht wenige behaupten, dass dieses Buch Vorlage und Inspirationsquelle für Filme wie Matrix oder eben The Truman Show darstellt. Die Autoren Richard Behrens und Allen B. Ruch gehen auf der Website www.themodernword.com, wo sie eine Abhandlung über Dicks Leben veröffentlichten, sogar noch einen Schritt weiter: „But perhaps the most Dickian of all is Peter Weir’s The Truman Show, in which Jim Carrey stars as Truman, a man who gradually discovers that his entire world is a massive set, filled with actors, scheduled events, and fake weather. The fact that Dick’s Time Out of Joint was not mentioned in the film’s credits seems to border on plagiarism, no matter how well-made and entertaining the movie!” (Behrens & Ruch 2003)

In Time Out of Joint geht es kurz gesagt um einen Mann, der herausfindet, dass er Teil eines militärischen Experiments ist und die Stadt, in der er lebt, eine einzige Halluzination. Mit diesem Buch läutet Mr. Dick zwar einen ernsteren Stil in seinem Werk ein und verleiht seinem Schreiben eine neue Tiefe, die strengen Fesseln des trivialen Science-Fiction-Genres kann er aber nicht abwerfen, wie Behrens und Ruch feststellen: „While the subject of the book (...) is nominally science fiction, his vivid portrayal of a Southern Californian community and his superbly drawn characters point to a deeper literary accomplishment. Though the book was initially publicized as “a novel of menace,” it was soon reprinted as an Ace paperback with a garish sci-fi cover sporting astronauts and hurtling moon rocks. Alas, the author had fallen back into the gravitational orbit of his native genre.”

Ich persönlich denke, dass es Philip K. Dick Zeit seines Lebens so ergangen ist und ihm durch die Genre-Reduzierung höhere Anerkennung verwehrt blieb, weshalb auch Hollywood seine Werke in oftmals beschämender, oberflächiger Form auf Zelluloid gebannt hat. Nur wenige Filmemacher haben die wahre Tiefe hinter Dicks Texten erkannt und zum Ausdruck gebracht – Ridley Scott ist wohl der prominenteste.


Doch bleiben wir bei dem Faktor der Überwachung. In Weirs Film etwa geht es um eine Kontrolle, die das Herz aller Verschwörungsfanatiker höher schlagen lässt: hier erfüllt sich nämlich das Prinzip der Paranoia, es stecken wirklich alle dahinter, man kann niemandem trauen. Was dieses fiktionale Werk nun so interessant macht und sie von anderen Überwachungsutopien (oder auch Überwachungen im realen Leben) abhebt, ist der Fakt, dass hier nur ein einziges Individuum überwacht wird, statt einer ganzen Bevölkerung. Man werfe nur einen näheren Blick auf die Erstellung der Truman Show: ein solch irrwitzig riesiger Aufwand, eine konstruierte eigene Welt, unzählige versteckte Kameras, Vollzeitschauspieler im täglichen Einsatz, und das alles nur, um das Leben eines Einzelnen komplett zu kontrollieren und jede Minute seiner inszenierten Existenz der Öffentlichkeit preiszugeben?! Kann man so etwas gutheißen? Natürlich – wenn die Einschaltquoten stimmen.

Doch ernsthaft: im Jahr 2009 ist es ein kleiner Schritt von der Fiktion in die Realität. Der einzige Unterschied ist, dass sich die Kandidaten einer heutigen Reality-Show im Fernsehen wissentlich überwachen lassen und den Schritt aus freien Zügen gewagt haben. Noch. Aber wer weiß, was uns demnächst bevorsteht. Die Wolken der Zukunft verdunkeln sich. Hinter jeder Ecke lauert die Manipulation im Schatten. Und vielleicht ist dieser Blog am Ende auch nur das Produkt einer fremden Macht. Kontrolliere ich noch meine Gedanken, oder kontrollieren sie mich? Und überwacht der Staat meine Blog-Inhalte? Ist die Realität nur ein Traum in einem Traum in einer Simulation? Und wie echt ist die Welt des Internets? Vor meinem Bildschirm schwebt die Überschrift „Web 2.0 – das Höhlengleichnis der Zukunft“. Alles löst sich auf. Die Precogs schweigen, VALIS verschließt die Augen, die Menschen tanzen wie Marionetten und die Regierungen reiben sich ihre verschwörerischen Hände. Und bevor der Autor in völliger Paranoia untergeht, schließt er diesen Blog-Eintrag mit einem Zitat von Terry Pratchett: „Just because you’re paranoid doesn’t mean they’re not after you“.



Quellen:


Behrens, R. & Ruch, A. B. (2003). „Philip K. Dick”, in: The Modern Word, Zugriff am 26.6.2009 unter http://www.themodernword.com/SCRIPTorium/dick.html

Pratchett-Zitat in: Wikipedia, die freie Enzyklopädie, Zugriff am 26.6.2009 unter http://de.wikipedia.org/wiki/Paranoia

Weir, P. (Regie). (2003). Die Truman Show [DVD-Video]. Paramount Home Entertainment. (Orig. The Truman Show. USA 1998).

Mittwoch, 24. Juni 2009

5. Ich zweifele, also bin ich. Der medienontologische Zweifel und das Objekt.

„Im Blick des Anderen erfahre ich den Anderen als Freiheit, die mich zum Objekt macht.“
Sartre, „Das Sein und das Nichts“

Im weiteren Verlauf seines Werkes widerspricht Groys der Theorie des unendlichen Zeichenflusses, denn Medienträger beschränken sich in ihrer materiellen Beschaffenheit auf zwei Operationen, nämlich auf Speicherung und Übertragung: „Nirgendwo trifft man auf unendliche Mengen von Zeichen oder auf unendliche Zeichenströme – und zwar aus dem einfachen Grund, weil es keine Medienträger gibt oder geben kann, die unendlich große Kapazitäten hätten, um unendliche Mengen von Zeichen zu speichern oder zu übertragen.“ 1 Auf der operationellen Ebene muss daher ein Subjekt vermutet werden, „das mit den Zeichen wie mit Dingen umgeht, ohne ihre möglichen Bedeutungen zu berücksichtigen.“ 2
Diese anto-ontologische Einsicht vertritt auch die „Theorie des Fließens“, die das submediale Subjekt lediglich für eine Illusion und die Annahme, die sichtbaren Zeichen seien das Ergebnis seiner böswilligen Manipulation, für eine Projektion der Ängste des Betrachters hält. 3 Groys widerspricht dem jedoch: „Dieser Verdacht aber lässt sich prinzipiell nicht entkräften, weil der submediale Raum, der durch diesen Verdacht eröffnet wird, für den Betrachter der medialen Oberfläche – zumindest während der Zeit der Betrachtung – prinzipiell nicht zugänglich ist. Es stehen dem Medienbetrachter also keine Mittel zur Verfügung, den medienontolgischen Verdacht zu bestätigen oder zu widerlegen. Und gleichzeitig kann der Betrachter den Verdacht auch nicht einfach ausschalten, verdrängen oder unterdrücken – denn dieser Verdacht ist für die Medienerfahrung als solche konstitutiv.“ 4
Die materielle Beschaffenheit der Zeichenträger als objektiv verifizierbare Funktion des Medienträgers widerspricht dabei keineswegs dem eher subjektiv anmutenden Verdacht:

„Vielmehr ist der medienontologische Verdacht im phänomenologischen Sinne ‚objektiv’, weil er sich bei der Betrachtung der medialen Oberfläche notwendigerweise einstellt. [...] Da der innere, submediale Raum strukturell vor uns verborgen ist, können wir gar nicht anders als verdächtigen, projizieren, unterstellen. [...] Da der (medien)ontologische Verdacht sich wissenschaftlich, objektiv, beschreibend weder bestätigen noch widerlegen lässt, bildet er seine eigene Realität – und dementsprechend auch seine eigenen Kriterien der Wahrheit.“ 5

Die Wahrheit der Medienontologie muss der wissenschaftlichen Wahrheit zwangsläufig widersprechen. Denn sie ist keine an statistischen Regelmäßigkeiten festzulegende, sondern eine, aus der Unregelmäßigkeit des Ausnahmezustands entstehende Wahrheit: „Diese Wahrheit offenbart sich ihm in gleicher Weise, wie sich ihm die menschliche Subjektivität in Augenblicken offenbart, in denen sich ein Mensch im Moment einer freiwilligen, erzwungenen oder unbewussten Aufrichtigkeit verrät, preisgibt, zum Geständnis genötigt sieht.“ 6 Das Warten auf eine Offenbarung des Subjekts betrachtet Groys als konstitutiv für die Existenz des Subjekts im Inneren der Welt:

„Der Weltbetrachter kann sich nicht damit begnügen, die Zeichen auf der Weltoberfläche bloß zu registrieren – vielmehr wartet er darauf, dass die Welt ihm endlich ein Geständnis macht. Dieses Warten konstituiert das Innere der Welt als ‚Subjekt’. Es handelt sich also nicht darum, dass die Welt in ihrem Inneren ‚tatsächlich’ ein Subjekt ‚ist’, sondern allein darum, dass wir die Welt auf eine Art und Weise verdächtigen müssen, auf die wir nur das Subjekt verdächtigen können.“ 7


Laut Groys hat der ontologische Verdacht die gesamte Geschichte des Abendlandes bestimmt: Hat Plato die Angst vor dem Verborgenen zu stillen beabsichtigt, ist die „Philosophie am Anfang der Neuzeit dank Descartes zu dem Schluss gekommen, dass der ontologische Verdacht nicht ‚in der Welt’, sondern allein ‚im Betrachter’ sein kann.“ 8 Demnach kann der Weltbetrachter den ontologischen Verdacht mittels des „erkenntnistheoretischen Zweifels“ auf eigenständige Weise verwalten:

„Für Descartes besitzt der ontologische Verdacht nicht mehr die Kraft, die Seele des Betrachters ohne dessen Willen, ohne dessen bewusste Zustimmung zu erfassen. [...] Der wissenschaftlich denkende Betrachter zweifelt, untersucht und kommt auf diesem Weg zu bestimmten Erkenntnissen. Diese Erkenntnisse sind aber nur dann ‚seine’ Erkenntnisse, wenn er selbst darüber entscheiden kann, wann sein Zweifel beginnt und wann er endet.“ 9

Der „erkenntnistheoretische Zweifel“, der ein autonom handelndes Subjekt voraussetzt, impliziert aber immer auch eine eigennützige Haltung des Weltbetrachters, der seinen Zweifel nur so weit heranreifen lässt, wie er ihm zur Erkenntnis seiner sozialen Unabhängigkeit verhilft. Der Protagonist aus „Minority Report“ lässt sich insofern als kartesianische Inkarnation des erkenntnistheoretischen Skeptikers bezeichnen, denn wie „fast immer in einem amerikanischen Film, wird dieser böse idealistische Traum [der Traum des Antagonisten , der uneigennützig handelt um Sicherheit und Wohlstand zu garantieren, Anm.] vom guten Helden zerstört, der immer nur seine egoistischen Interessen verfolgt und damit die Realisierung der Utopie verhindert.“ 10

Nun räumt Groys jedoch ein, der Zweifel sei weder durch klare Evidenz abschließbar, noch ließe sich der Entschluss über seinen Anfang bestimmen. Der Zweifel tritt viel eher unangekündigt ein, ergibt sich von selbst und erfasst den Weltbetrachter wie eine Angst: „Der Zweifel, von dem man erfasst wird, ist nämlich kein erkenntnistheoretischer Zweifel mehr, sondern vielmehr der paranoide, unabweisbare, ontologische Verdacht, der sich nie beenden lässt.“ 11 Der ontologische Zweifel, wie Descartes behauptet, kann sich also nicht „im Betrachter“ sondern muss sich „in der Welt“ befinden: „Der Verdacht ist, wenn man so will, subjektiv – aber sein Subjekt ist das Innere des submedialen Raums, der unter Verdacht steht. Der Betrachter ist dagegen kein Subjekt des Verdachts – sondern nur sein Opfer, sein Objekt.“ 12

Die zukünftigen Straftäter in „Minority Report“ sind insofern als Opfer der Bilder, als Opfer der sie zu Objekten machen Subjektivität des submedialen Raums zu sehen. Sie können aus dem submedialen Raum heraus überwacht werden; indes sind die Überwacher das Subjekt aus dem submedialen Raum, während der Verdacht, den sie hegen, den Oberflächen entspringt, die sie von den Precogs erhalten. Hier wird also eine Vision entworfen, nach dem sich der ontologische Zweifel in beidem befindet: „Im Betrachter“ und „in der Welt“.

1 Groys, Unter Verdacht, S. 45.
2 Ebenda, S. 46.
3 Vgl. Ebd., S. 50.
4 Ebd., S. 50.
5 Ebd., S. 52.
6 Ebd., S. 52.
7 Ebd., S. 54.
8 Ebd., S. 55.
9 Ebd., S. 56.
10 Vgl. Groys, Groysaufnahme, S. 64 f.
11 Groys, Unter Verdacht, S. 56.
12 Ebenda, S. 56.

Dienstag, 23. Juni 2009

4. Das submediale Subjekt hinter dem Zeichenfluss

„Come on into the water!“
aus „Jaws“ (1975)

Boris Groys bezieht sich in „Unter Verdacht“ auch auf den Strukturalismus; gleichwohl unterscheidet er dabei zwischen ihm und den Poststrukturalismus. Seiner Ansicht nach operiert die Populärkultur in Form von Hollywood-Filmen so, daß sie sich, anders als der poststrukturalistische Diskurs es tut, nicht an einer „Desubjektivierung des Subjekts“ beteiligt: „Die Massenkultur der heutigen Zeit ist vor allem eine Kultur des radikalen Verdachts. Der dominierende philosophische Diskurs, der die Subjektivität leugnet, wirkt dagegen in erster Linie beschwichtigend.“ 1

Groys meint aus dem poststrukturalistischen Diskurs die Botschaft der Auflösung des Subjekts abzuleiten; dem gemäß verliert sich nämlich das Subjekt schon per se im medialen Zeichenspiel auf eine Weise, daß der unendliche Fluß der Zeichen nicht länger kontrolliert werden kann. Demnach kann es auch kein staatliches Subjekt mehr geben, das Kontrolle ausübt: „Eben darin besteht eigentlich die frohe, revolutionäre, optimistische Botschaft des poststrukturalistischen Denkens: Die Zeichen entziehen sich durch ständige Bewegung und Verschiebung ihrer Bedeutungen jeder bewussten Kontrolle seitens der Macht. Wer mit den Zeichen ständig mitfließt, ist frei – er entkommt dadurch jeder möglichen Kontrolle, Überwachung, Disziplinierung.“ 2

Der Ansicht des klassischen Strukturalismus, nach der das Subjekt imstande ist die Differenzen innerhalb eines Zeichensystems zu erkennen und benennen zu können, widerspricht der Poststrukturalismus angesichts der Feststellung, dass das Subjekt nicht im Stande ist, sein eigenes Sprechen zu reflektieren, „weil die Metasprache, die es benötigt, um eine solche Reflexion zu vollziehen, ebenfalls eine Sprache ist – die von der zu untersuchenden Objektsprache nicht eindeutig zu unterscheiden ist.“ 3 Daraus leitet Groys ab, dass das Subjekt immer schon zu spät zur Signifikation des Zeichens kommt, weil sich das Zeichenspiel bereits unmerklich verschoben hat, wenn es versucht zu seinem Sinn zu gelangen. 4

Der Homo Significans nach Roland Barthes, der sich als ein, den Zeichensystemen gegenüber mächtiges Subjekt positionieren kann, indem er sich seiner Signifikation bewusst ist 5, bleibt angesichts der Medien als Produzent unüberschaubar gewordener Differenzen eine Utopie. Das im „dunklen Meer der Signifikation“ schwimmende Subjekt ist im poststrukturalistischen Diskurs ohnmächtig. 6

Groys spricht davon, dass das Schwimmen mit dem Zeichenfluss einer Ekstase gleichkomme da es die Sprache und die ihr angehörigen Eindeutigkeiten auflöse. 7 Zugleich habe die „Philosophie des fließenden Sinnes“ zur Folge, dass sie sich, weg vom Subjekt der Überwachung, der Machtkontrolle und der Zensur, hin zur „unendlichen Ekstase des Marktes“ bewegt hätte. 8

Die in „Minority Report“ entworfene Zukunftsvision oszilliert nun zwischen zweierlei: Es gibt ein klassisches, orwellsches staatliches Subjekt der Überwachung und, schaut man sich das Produktionsdesign des Films an, eine Vielzahl fließender Zeichen: Die halb durchsichtigen Werbetafeln in der Shopping – Mall, Cornflakes – Packungen, auf denen Animationen ablaufen, das mit Händen steuerbare Interface oder die im Raum befindlichen Videoprojektionen. Darüber hinaus lassen sich Motive antreffen, die mit Wasser in Verbindung stehen: So befinden sich etwa die Precogs in einem Wasserbecken, als Anderton von metallenen Spinnen anhand neu eingepflanzter Augen identifiziert werden soll, sucht er vergeblich Schutz in einer Badewanne und sein Sohn geht im Zuge eines Tauchspiels in einem öffentlichen Schwimmbad verloren.

Georg Seeßlen hatte bereits darauf verwiesen, dass Wasser in den Filmen von Spielberg immer als etwas Trügerisches und Bösartiges entworfen werde 9 : Unter der Wasseroberfläche wartet das unsichtbare, bedrohliche Subjekt in Gestalt des weißen Hais, im Ozean die Enttäuschung über das nicht-auffindbare Subjekt in Gestalt der Mutter aus „A.I.“. Wasser deutet in „Schindlers Liste“ die nicht-darstellbare Vergasung in den Konzentrationslagern des Dritten Reiches an und auch die Gremlins werden bei Berührung mit Wasser zu anarchischen Monstern.

In „Minority Report“ ist der von Groys beschriebene Zeichenfluss ebenfalls anzutreffen. Aus ihm geht der Precrime – Überwachungsapparat praktisch als utopisch gedachte Institution hervor, welche die Zeichen am fließen hindern soll. Mit ihm soll die verloren gegangene Eindeutigkeit wiederhergestellt werden. Zugleich entpuppt sich diese Idee als Widerspruch, denn der Überwachungsapparat geht aus der Paranoia hervor, die vom Zeichenfluss geschaffen wird. So stellt auch Groys fest, dass der Fluss der Zeichen zwar die „Grenzen der subjektiven Kontrolle“ auflöse, aber dennoch auf Verfolgungswahn beruhe: „Im Großen und Ganzen kann es sich hier offensichtlich nur um ein Programm der äußersten Angst, der extremen Paranoia, des absoluten Verfolgungswahns handeln – denn nur derjenige, der sich ständig von einem verborgenen Subjekt beobachtet, verfolgt und bedroht fühlt, kann sich zum obersten Ziel setzen, dieser Beobachtung zu entweichen, jede Festlegung zu vermeiden, die eigene Position nicht anzugeben, ständig zu fließen und die Angaben über seine Befindlichkeit permanent zu ändern.“ 10

Die fließenden Werbebotschaften, für die Spielberg wegen ihres allzu plakativen Einsatzes kritisiert wurde, können (im wahrsten Sinne des Wortes) oberflächlich betrachtet als schlichtes Product Placement gewertet werden; in Wahrheit verbergen sie jedoch eine subversive Kritik 11 am unendlichen Fluß der Zeichen, der, laut Groys, immer auch einen unendlichen Fluss des Kapitals mit ein schließt:

„Damit erreicht die Philosophie des fließenden Sinns eine neue Stufe der Ekstase – nämlich die unendliche Ekstase des Marktes, der sich hier als verbotener Name des Ganzen ankündigt. Was als ein anti-autoritärer Diskurs intendiert wurde, der den Fluss der Sprache vom Subjekt der Überwachung, der Machtkontrolle und der Zensur befreien sollte, hat sich inzwischen als zeitgemäße Markt- und Managementstrategie entpuppt. [...] Übrigens schließt das unendliche Zeichenspiel das Spiel mit den Geldzeichen von Anfang an ein: Wo das unendliche Begehren fließt, fließt auch das Kapital. Eigentlich war die Philosophie des fließenden Sinns von Anfang an kapitalfreundlich-die Subversion galt vielmehr dem Staat und seinen in der Tradition verankerten Institutionen.“ 12

Die verheißungsvolle Botschaft von Spielbergs Film könnte demnach lauten, dass ein ungehinderter Fluss der Zeichen ein staatliches Subjekt heraufbeschwört wie es hier anzutreffen ist, denn „wie nachdrücklich und überzeugend man auch immer bereit ist, den Markt als fließend zu beschreiben, sitzt bei allen am Marktgeschehen Beteiligten die Angst vor einer verborgenen und insgeheim alles lenkenden Manipulation einfach zu tief, um ideologiekritisch entkräftet zu werden.“ 13 Der Zeichenfluss impliziert also das verborgene Subjekt hinter seiner Wasseroberfläche, obwohl es dergleichen zu verbergen beabsichtigt. Unter ihr wartet der weiße Hai, das bedrohliche Subjekt in Gestalt eines repressiven Überwachungsapparates, ähnlich wie das hinter der „medialen Oberfläche des Himmels verborgen“ bleibende Alien und offenbart dem Zuschauer die Möglichkeit ins „Innere des submedialen Raums der modernen Medien blicken [zu] können – um dort die uns drohende, unerbittliche Gefahr zu entdecken.“ 14

1 Groys, Unter Verdacht, S. 32.
2 Ebenda, S. 34.
3 Ebd., S. 36.
4 Vgl. Ebd., S. 36 f.
5 Vgl. Roland Barthes, „Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart“, Die strukturalistische Tätigkeit, Hg. Dorothee Kimmich, Rolf Günter Renner, Bernd Stiegler, Reclam: Stuttgart 1996, S. 221.
6 Vgl. Groys, Unter Verdacht, S. 36.
7 Vgl. Groys, Unter Verdacht, S. 37 ff.
8 Ebenda, S. 38.
9 Vgl. Georg Seeßlen, Steven Spielberg und seine Filme, Schüren: Marburg 2001.
10 Groys, Unter Verdacht, S. 41.
11 Dass Steven Spielberg hochgradig subversive Blockbuster dreht ist ein Streitpunkt innerhalb der Filmkritik. Ich persönlich kann mich dieser Ansicht jedoch nur anschließen. Ob sein erfolgreiches Debüt „Duell“, eine Allegorie auf „Death of a Salesman“ oder „War of the Worlds“ als Kritik an der imperialistischen Invasionspolitik von George W. Bush; Spielbergs Blockbuster implizieren hinter ihrem Effektgewitter immer auch ein dezidiert politisches Anliegen.
12 Ebenda, S. 38 ff.
13 Vgl. Ebd., S. 41.
14 Ebd., S. 76.


Sonntag, 21. Juni 2009

3. Das prophetische Bild als das Symbolische

Christof: I know you better than you know yourself.
Truman: You never had a camera in my head!
aus „The Truman Show“ (1998)


Für Gilles Deleuze konstituiert sich das zwischen Korrelation und Unterscheidung oszillierenden Verhältnis vom Realen zum Imaginären/Imaginären zum Realen aus einer dritten Kategorie: Dem Symbolischen. Spielt das Reale in das Imaginäre und das Imaginäre in das Reale herein, so ist das von Deleuze als „dritte Ordnung“ bezeichnete Symbolische nicht mit beidem zu vermengen. Es steht für sich. 1 Das Symbolische ist jenes Zeichen, das aus der Unsichtbarkeit der Genese am Anfang jeder Struktur steht: „Bei Lacan, auch bei anderen Strukturalisten, steht das Symbolische als Element der Struktur am Beginn einer Genese: die Struktur nimmt in den Realitäten und den Bildern in bestimmbaren Reihen Gestalt an [...].“ 2

Zugleich treten die Katastrophen in der strukturalen symbolischen Ordnung als Störungen des Realen und des Imaginären auf: In diesem Fall ist von einer Halluzination zu sprechen. 3 Wie auch Elisabeth Bronfen in ihrer Rezension zu „Minority Report“ feststellt, ist das darin dargestellte Überwachungssystem von den „Halluzinationen traumatisierter Wesen“ abhängig, nämlich von „Kindern Drogensüchtiger, die genetisch behandelt worden sind.“ 4 Die Katastrophe in der strukturalen symbolischen Ordnung ist ihnen sozusagen von vornherein gegeben: Sie bildet den Ausgangspunkt für eine im Precog zu eins gewordenen Relation von Realem und Imaginären.

Deleuze meint, das Reale verfolge immer das Ideal der Vereinheitlichung zwischen sich und dem Imaginären: „[...] das Reale hat das Bestreben, Eins zu machen, es ist eins in seiner ‚Wahrheit’. Sobald wir zwei in einem ‚Einem’ sehen, sobald wir verdoppeln, erscheint das Imaginäre persönlich, selbst wenn es sein Wirken im Realen ausübt.“ 5 Deleuze stellt hier einen Bezug zu Lacans Interpretation des „Wolfsmannes“ her: „[...] so geschieht es im Falle des Wolfsmannes, wie Lacan ihn interpretiert, daß das Thema der Kastration, weil es nicht-symbolisiert bleibt (‚Verwerfung’), im Realen, in der halluzinatorischen Form des abgeschnittenen Fingers wiederauftaucht.“ 6

Auch die Halluzinationen von Agatha in „Minority Report“ liegen dem Mangel am Symbolischen zugrunde; das Verworfene tritt in ihren Halluzinationen wieder auf. Wie auch Deleuze feststellt, ist das aus der Struktur hervorgehende symbolische Element weder Form, noch Gestalt, weder Figur, noch Wesen, weder Bedeutung, noch Repräsentation, weder Inhalt, noch gegebene empirische Realität; sein Sinn geht lediglich aus seiner Stellung hervor. 7 Die halluzinatorischen Bilder von Agatha stellen also Form, Gestalt, Figur, Wesen, Bedeutung, Inhalt und Repräsentation dort her, wo derlei ohne Bild nicht aufzufinden wäre (denn das Bild impliziert Form, Gestalt, Figur, Wesen, Bedeutung, Inhalt und Repräsentation).

Zugleich durchläuft das prophetische Bild die Serien des Films als etwas seriell organisiert Symbolisches:
„[...] es [das seriell Symbolische, Anm.] ist immer im Verhältnis zu sich selbst verschoben. Es hat die Eigenschaft, nicht dort zu sein, wo man es sucht, aber dafür auch gefunden zu werden, wo es nicht ist. Man kann sagen, daß es ‚an seinem Platz fehlt’ (und von daher nichts Reales ist). Ebensogut, daß es sich seiner eigenen Ähnlichkeit entzieht (und von daher kein Begriff ist).“

Das prophetische Bild ist in „Minority Report“ nicht dort, wo es sein sollte: Es ist nicht real, weil es sich noch nicht ereignet hat. Es ist also nicht dort, wo man es sucht und zugleich kann es gefunden werden, wo es nicht ist bzw. wo es sich noch nicht ereignet hat.

In „Minority Report“ organisiert das prophetische Bild in der gesellschaftlichen Sphäre den wechselnden Wert der Verhältnisse zwischen gut und schlecht, Gegenwart und Zukunft, Realität und Bild. Indem sich der reale Mord an der Mutter der Protagonistin im wahrsten Sinne des Wortes als Realität ver-spiegelt 8 (indem es sich im späteren Verlauf des Films als Manipulation entpuppt) sieht man sich wieder mit Groys’ Theorie vom medienontologischen Verdacht konfrontiert:

„Der Minority Report entdeckt das Böse dort, wo es immer schon vermutet wurde – im Akt der Reproduktion. Die Originalität des Films besteht allein darin, daß das übliche Verhältnis zwischen Realität und Bild dabei umgedreht wird: Nicht das Bild reproduziert die Realität, sondern die Realität reproduziert – und verfälscht, inszeniert, pervertiert – das prophetische Bild.“ 9

1 Vgl. Gilles Deleuze, Woran erkennt man den Strukturalismus?, Merve: Berlin 1992, S. 10 (Orig. Gilles Deleuze, „Woran erkennt man den Strukturalismus“, Geschichte der Philosophie, Hg. F. Châtelet, Band 8, Ullstein: Frankfurt/Berlin/Wien 1975 (1973)).
2 Ebenda, S. 11.
3 Ebd., S. 11 f.
4 Vgl. Elisabeth Bronfen, „Das Orakel von Washington D.C.“, http://www.taz.de/index.php?id=archivseite&dig=2002/10/02/a0171, Letzter Zugriff: 21.06.09, 21:55 Uhr.
5 Deleuze, Woran erkennt man den Strukturalismus?, S. 12.
6 Ebenda, S. 11 f.
7 Vgl. Ebd., S. 14 ff.
8 Das Reale ver-spiegelt sich, weil es Imaginäres ist. Deleuze charakterisiert das Imaginäre wie folgt: „Das Imaginäre bestimmt sich durch Spiele umgekehrter Spiegel, Verdoppelungen, Indentifikationen und Projektionen, immer nach dem Muster des Doubles.“ (Deleuze, Woran erkennt man den Strukturalismus?, S. 12.).
9 Boris Groys, „Der Gentleman und der Weltgeist“, Groysaufnahme, Köln: Schnitt 2007, S. 64 (Orig. Schnitt-Das Filmmagazin, Januar 2003).

Samstag, 20. Juni 2009

Mensch, Kontrolle, Freiheit – Von Dänemark bis Dystopia

The Unknown Citizen


(To JS/07 M 378
This Marble Monument
Is Erected by the State)


He was found by the Bureau of Statistics to be

One against whom there was no official complaint,

And all the reports on his conduct agree

That, in the modern sense of an old-fashioned word, he was a

saint,

For in everything he did he served the Greater Community.

Except for the War till the day he retired

He worked in a factory and never got fired,

But satisfied his employers, Fudge Motors Inc.

Yet he wasn't a scab or odd in his views,

For his Union reports that he paid his dues,

(Our report on his Union shows it was sound)

And our Social Psychology workers found

That he was popular with his mates and liked a drink.

The Press are convinced that he bought a paper every day

And that his reactions to advertisements were normal in every way.

Policies taken out in his name prove that he was fully insured,

And his Health-card shows he was once in hospital but left it cured.

Both Producers Research and High-Grade Living declare

He was fully sensible to the advantages of the Instalment Plan

And had everything necessary to the Modern Man,

A phonograph, a radio, a car and a frigidaire.

Our researchers into Public Opinion are content

That he held the proper opinions for the time of year;

When there was peace, he was for peace: when there was war, he went.

He was married and added five children to the population,

Which our Eugenist says was the right number for a parent of his

generation.

And our teachers report that he never interfered with their

education.

Was he free? Was he happy? The question is absurd:

Had anything been wrong, we should certainly have heard.


(W. H. Auden, 1940)


Dieses, in meinen Augen, grandiose, vor Ironie nur so strotzende Gedicht des anglo-amerikanischen Dichtes W. H. Auden soll als Ausgangslage dienen für die große Überlegung, die auch das Leitmotiv in Philip K. Dicks Werk darstellt: Was ist der Mensch? Sind wir wirklich nur namenlose Bürger, die ihre Existenz dem großen Kontrollsystem unterordnen? Oder gibt es da unter Umständen noch etwas anderes, das uns menschlich macht? Freiheit? Glück? Aus Sicht des Staates selbstverständlich eine absolut verzichtbare Fragestellung. Wie Auden am Ende seines Gedichtes fragt: war dieser mustergültige, vorbildhafte Staatsdiener glücklich oder frei? Welch absurde Frage! Schon wahrhaft erstaunlich, wie aktuell dieses knapp siebzig Jahre alte Gedicht auch heute noch ist, und wahrhaft erschreckend, wie gut es sich auf das Bild eines totalitären Regimes in Dystopien aus Buch und Film übertragen lässt.

Der Bürger in The Unknown Citizen ist ein meinungs- und gedankenfreies Wesen, geformt von dem System, eingenommen von seiner Arbeit. Die bedingungslose Anpassung, welche ihn zum perfekten Schwiegersohn des allmächtigen Muttersystems macht, beraubt ihn schließlich seiner Menschlichkeit. Auden weist eindringlich auf die Gefahr hin, welche von einem System ausgeht, das eine solche Kontrolle und Überwachungsmacht entwickelt hat, dass es dem Volk einen der Aspekte nimmt, der uns zum Menschen macht: nämlich die Freiheit. Natürlich, Freiheit ist stets begrenzt und für den Menschen auch niemals völlig greifbar. Gefühl und Dankbarkeit des Freiseins gehen Hand in Hand dem Wissen um ihre Grenzen. „Alles und jeder ist an Zwänge gebunden.“, betont der geniale Filmemacher Andrej Tarkowskij (1996: 188), „Wenn man nur einen einzigen Menschen unter den Bedingungen völliger Freiheit sehen könnte, dann würde der einem Tiefseefisch auf dem Trockenen gleichen.“ Vermutlich wird sich die wahre und volle Bedeutung dieses komplexen Begriffs dem Menschen auch niemals ganz erschließen. Nichtsdestotrotz muss aber die reine Vorstellung von Freiheit immer gegeben sein, damit der Mensch sich darauf stützen kann.

Blicken wir noch einmal auf The Unknown Citizen: Es ist hier doch ein sehr pessimistisches Bild der Gesellschaft, das Auden mit viel Ironie zeichnet, doch ist es wohl gar nicht allzu weit von der Realität entfernt (man munkelt, dass Philip K. Dick dieses Gedicht neben Bibel und Erste-Paranoia-Set unter seinem Kopfkissen aufbewahrte). Zahlreiche Propheten haben immer wieder das Ende der Welt vorausgesagt – ohne großen Erfolg. Die düsteren Zukunftsvisionen einiger Science-Fiction-Autoren haben sich da schon weitaus präziser bewahrheitet.


Doch wie soll man nun schlussendlich zum Konfliktthema der systematischen Überwachung stehen? Ja mit einem aber, oder nein mit einem wenn? Brauchen wir eine oder sollte man sie verbieten? Eine wichtige Frage. Ich meine: egal, ob wir es mit Überwachung im demokratischen Alltag, in brutaler Realität oder grausamer Fiktion zu tun haben – es ist nicht die Überwachung, die unmoralisch ist, es ist stets der Mensch, der sie als solches benutzt. Es gibt keine gewissenlose Überwachung, es gibt nur gewissenlose Menschen. Man muss nicht in den dunklen Zukunftsgeschichten der Science-Fiction-Literatur blättern, um zu dieser Ansicht zu kommen, es genügt ein kurzer Ausflug in die Vergangenheit. Niemand geringeres als William Shakespeare ist es, der schon vor vierhundert Jahren diesen zeitlosen Gedanken aufgestellt hat, indem er seinen Hamlet solch große Worte sprechen lässt (Shakespeare 1603/1966: 42):


Hamlet. So steht der jüngste Tag bevor; aber eure Neuigkeit ist nicht wahr. Laßt mich euch näher befragen: worin habt ihr, meine guten Freunde, es bei Fortunen versehen, dass sie euch hierher ins Gefängnis schickt?

Güldenstern. Ins Gefängnis, mein Prinz?

Hamlet. Dänemark ist ein Gefängnis.

Rosenkranz. So ist die Welt auch eins.

Hamlet. Ein stattliches, worin es viele Verschläge, Löcher und Kerker gibt. Dänemark ist einer der schlimmsten.

Rosenkr. Wir denken nicht so davon, mein Prinz.

Hamlet. Nun, so ist es keiner für euch, denn an sich ist nichts weder gut noch böse; das Denken macht es erst dazu. Für mich ist es ein Gefängnis.


Eine Überwachung also, ohne Gedanken, ohne Menschen dahinter, ist noch nichts Falsches. Ist ein Überwachungsstaat ein Gefängnis, so kann auch die ganze Welt eines sein. Alles entsteht im Denken. Und solange es kein einheitliches menschliches Denken gibt, wird es immer Überwachungsmittel geben, hinter denen ein guter Gedanke steckt, und gleichzeitig werden stets Kontrollsysteme herrschen, welche nur zur Ausnutzung anderer dienen. Das System kontrolliert die Menschen doch nur, wenn der Mensch das System kontrolliert.

Gedanken. Handlungen. Konsequenzen. Es ist ein Kreislauf, der auf Gegensätzen beruht, der die Welt im scheinbaren Gleichgewicht hält.


Und vielleicht ist der Mensch am Ende genau das: ein ewiges Paradox. Ein Wesen der Widersprüche und der Extreme. Er haust in seinen Gegensätzen, wie Zufall und Schicksal in einer Wohngemeinschaft. Der Mensch ist gut und der Mensch ist schlecht. Er hegt seinen Trieb zur Selbsterhaltung genauso, wie er seine Selbstzerstörung forciert. Und wenn eines Tages die Maschinen rebellieren und sich gegen uns auflehnen, dann war es allein der Mensch, der sich die Schaufel für sein Grab gekauft hat. Philip K. Dick war wohl einer der ersten, die das gewusst haben.


Quellen:


Auden, W. H. (1940). „The Unknown Citizen“, poets.org. Zugriff am 12.06.2009 unter http://www.poets.org/viewmedia.php/prmMID/15549

Shakespeare, W. (1966). Hamlet. Stuttgart: Reclam.

Tarkowskij, A. (1996). Die versiegelte Zeit: Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poesie des Films. Berlin: Ullstein.