Sonntag, 21. Juni 2009

3. Das prophetische Bild als das Symbolische

Christof: I know you better than you know yourself.
Truman: You never had a camera in my head!
aus „The Truman Show“ (1998)


Für Gilles Deleuze konstituiert sich das zwischen Korrelation und Unterscheidung oszillierenden Verhältnis vom Realen zum Imaginären/Imaginären zum Realen aus einer dritten Kategorie: Dem Symbolischen. Spielt das Reale in das Imaginäre und das Imaginäre in das Reale herein, so ist das von Deleuze als „dritte Ordnung“ bezeichnete Symbolische nicht mit beidem zu vermengen. Es steht für sich. 1 Das Symbolische ist jenes Zeichen, das aus der Unsichtbarkeit der Genese am Anfang jeder Struktur steht: „Bei Lacan, auch bei anderen Strukturalisten, steht das Symbolische als Element der Struktur am Beginn einer Genese: die Struktur nimmt in den Realitäten und den Bildern in bestimmbaren Reihen Gestalt an [...].“ 2

Zugleich treten die Katastrophen in der strukturalen symbolischen Ordnung als Störungen des Realen und des Imaginären auf: In diesem Fall ist von einer Halluzination zu sprechen. 3 Wie auch Elisabeth Bronfen in ihrer Rezension zu „Minority Report“ feststellt, ist das darin dargestellte Überwachungssystem von den „Halluzinationen traumatisierter Wesen“ abhängig, nämlich von „Kindern Drogensüchtiger, die genetisch behandelt worden sind.“ 4 Die Katastrophe in der strukturalen symbolischen Ordnung ist ihnen sozusagen von vornherein gegeben: Sie bildet den Ausgangspunkt für eine im Precog zu eins gewordenen Relation von Realem und Imaginären.

Deleuze meint, das Reale verfolge immer das Ideal der Vereinheitlichung zwischen sich und dem Imaginären: „[...] das Reale hat das Bestreben, Eins zu machen, es ist eins in seiner ‚Wahrheit’. Sobald wir zwei in einem ‚Einem’ sehen, sobald wir verdoppeln, erscheint das Imaginäre persönlich, selbst wenn es sein Wirken im Realen ausübt.“ 5 Deleuze stellt hier einen Bezug zu Lacans Interpretation des „Wolfsmannes“ her: „[...] so geschieht es im Falle des Wolfsmannes, wie Lacan ihn interpretiert, daß das Thema der Kastration, weil es nicht-symbolisiert bleibt (‚Verwerfung’), im Realen, in der halluzinatorischen Form des abgeschnittenen Fingers wiederauftaucht.“ 6

Auch die Halluzinationen von Agatha in „Minority Report“ liegen dem Mangel am Symbolischen zugrunde; das Verworfene tritt in ihren Halluzinationen wieder auf. Wie auch Deleuze feststellt, ist das aus der Struktur hervorgehende symbolische Element weder Form, noch Gestalt, weder Figur, noch Wesen, weder Bedeutung, noch Repräsentation, weder Inhalt, noch gegebene empirische Realität; sein Sinn geht lediglich aus seiner Stellung hervor. 7 Die halluzinatorischen Bilder von Agatha stellen also Form, Gestalt, Figur, Wesen, Bedeutung, Inhalt und Repräsentation dort her, wo derlei ohne Bild nicht aufzufinden wäre (denn das Bild impliziert Form, Gestalt, Figur, Wesen, Bedeutung, Inhalt und Repräsentation).

Zugleich durchläuft das prophetische Bild die Serien des Films als etwas seriell organisiert Symbolisches:
„[...] es [das seriell Symbolische, Anm.] ist immer im Verhältnis zu sich selbst verschoben. Es hat die Eigenschaft, nicht dort zu sein, wo man es sucht, aber dafür auch gefunden zu werden, wo es nicht ist. Man kann sagen, daß es ‚an seinem Platz fehlt’ (und von daher nichts Reales ist). Ebensogut, daß es sich seiner eigenen Ähnlichkeit entzieht (und von daher kein Begriff ist).“

Das prophetische Bild ist in „Minority Report“ nicht dort, wo es sein sollte: Es ist nicht real, weil es sich noch nicht ereignet hat. Es ist also nicht dort, wo man es sucht und zugleich kann es gefunden werden, wo es nicht ist bzw. wo es sich noch nicht ereignet hat.

In „Minority Report“ organisiert das prophetische Bild in der gesellschaftlichen Sphäre den wechselnden Wert der Verhältnisse zwischen gut und schlecht, Gegenwart und Zukunft, Realität und Bild. Indem sich der reale Mord an der Mutter der Protagonistin im wahrsten Sinne des Wortes als Realität ver-spiegelt 8 (indem es sich im späteren Verlauf des Films als Manipulation entpuppt) sieht man sich wieder mit Groys’ Theorie vom medienontologischen Verdacht konfrontiert:

„Der Minority Report entdeckt das Böse dort, wo es immer schon vermutet wurde – im Akt der Reproduktion. Die Originalität des Films besteht allein darin, daß das übliche Verhältnis zwischen Realität und Bild dabei umgedreht wird: Nicht das Bild reproduziert die Realität, sondern die Realität reproduziert – und verfälscht, inszeniert, pervertiert – das prophetische Bild.“ 9

1 Vgl. Gilles Deleuze, Woran erkennt man den Strukturalismus?, Merve: Berlin 1992, S. 10 (Orig. Gilles Deleuze, „Woran erkennt man den Strukturalismus“, Geschichte der Philosophie, Hg. F. Châtelet, Band 8, Ullstein: Frankfurt/Berlin/Wien 1975 (1973)).
2 Ebenda, S. 11.
3 Ebd., S. 11 f.
4 Vgl. Elisabeth Bronfen, „Das Orakel von Washington D.C.“, http://www.taz.de/index.php?id=archivseite&dig=2002/10/02/a0171, Letzter Zugriff: 21.06.09, 21:55 Uhr.
5 Deleuze, Woran erkennt man den Strukturalismus?, S. 12.
6 Ebenda, S. 11 f.
7 Vgl. Ebd., S. 14 ff.
8 Das Reale ver-spiegelt sich, weil es Imaginäres ist. Deleuze charakterisiert das Imaginäre wie folgt: „Das Imaginäre bestimmt sich durch Spiele umgekehrter Spiegel, Verdoppelungen, Indentifikationen und Projektionen, immer nach dem Muster des Doubles.“ (Deleuze, Woran erkennt man den Strukturalismus?, S. 12.).
9 Boris Groys, „Der Gentleman und der Weltgeist“, Groysaufnahme, Köln: Schnitt 2007, S. 64 (Orig. Schnitt-Das Filmmagazin, Januar 2003).

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