Sonntag, 10. Mai 2009

„Minority Report“ vor dem Hintergrund von Boris Groys’ „Unter Verdacht“

„Wenn K. das Schloß ansah, so war ihm manchmal, als beobachtete er jemanden, der ruhig dasitze und vor sich hinsehe, nicht etwa in Gedanken verloren und dadurch gegen alles abgeschlossen, sondern frei und unbekümmert; so als sei er allein und niemand beobachte ihn; und doch mußte er merken, daß er beobachtet wurde, aber es rührte nicht im Geringsten an seine Ruhe und wirklich–man wußte nicht war es Ursache oder Folge-die Blicke des Beobachters konnten sich nicht festhalten und glitten ab. Dieser Eindruck wurde heute noch verstärkt durch das frühe Dunkel, je länger er hinsah, desto weniger erkannte er, desto tiefer sank alles in Dämmerung.“
Franz Kafka, „Das Schloß“, S. 80.


1. Die Unzerstörbarkeit der submedialen Subjektivität


Boris Groys geht in seinem Werk „Unter Verdacht“ davon aus, jeder sichtbaren medialen Oberfläche sei ein submedialer, unsichtbarer Raum inhärent. 1 Der submediale Raum, so Groys, sei wiederum zweierlei. Zum einen Raum des Verdachts, zum anderen Raum der Subjektivität, „denn die Sub-jektivität ist nichts anderes als die reine, paranoide, aber zugleich auch unvermeidliche Unter-stellung, dass sich hinter dem Sichtbaren etwas Unsichtbares verbergen muss.“ 2

Es ist ausgeschlossen die Subjektivität hinter der Oberfläche zu sehen und gleichfalls ist es unmöglich, dass sie sich auf der medialen Oberfläche zeigt. 3 Demnach erzeugt die mediale Oberfläche einen Verdacht: „Die Subjektivität bewohnt den dunklen, prinzipiell unzugänglichen, unerfahrbaren Raum des Verdachts.“ 4

Ausgehend von der Feststellung, dass das Medium immer zweideutig, weil mediale Oberfläche als auch submedialer Raum zugleich sei, wirft Groys die Frage auf, wer denn nun zeigt, wenn es einen Betrachter gibt, der sieht. Seine Antwort lautet: „Es ist die submediale Subjektivität die zeigt. Und keine Dekonstruktion der sehenden Subjektivität kann die zeigende Subjektivität treffen, denn die zeigende Subjektivität ist nicht transparent und evident, sondern dunkel und unergründlich.“ 5

Die Subjektivität des Sehenden ist also immer die Subjektivität des Mediums, die nicht sichtbar ist. Groys wendet hier die Lacansche Figur des Spiegels an um seine These zu untermauern. Lacan nach manifestiert sich nämlich die Subjektivität des Sehenden erst, wenn der sich selbst Betrachtende zur medialen Oberfläche wird. 6

Spielberg verwendet diese Allegorie insofern, wenn er in „Minority Report“ ein Justizsystem entwirft, das dem Verdacht gegenüber der Oberfläche folgt; jedoch, und da liegt der Unterschied verborgen, wendet es den Verdacht ausschließlich auf die Subjektivität des Sehenden, also des Menschen an, die mediale Oberfläche, die Bilder, welche die Precogs erzeugen hingegen, sind dem Verdacht entzogen, geben sie doch aus, dass ihre Oberfläche mit dem submedialen Raum übereinstimmt.

Der Held Anderton stellt den Verdacht gegenüber der medialen Oberfläche letztlich in zweifacher Weise wieder her und bringt damit das von Groys als „Ökonomie des Verdachts“ beschriebene System wieder zum Laufen: Indem er beweist, dass sein Spiegelbild aus der Zukunft seinen Verdacht bestätigt, dass sich hinter der sichtbaren medialen Oberfläche seiner Selbst eine unsichtbare Gegenwart verbirgt (er tötet den Vorausgesagten nicht) und indem er die Bildermanipulation seines Gegenspielers aufdeckt um die Werte der „medialen Aufrichtigkeit“ (auf den Begriff der „Aufrichtigkeit“ wird später noch explizit einzugehen sein) zu bestätigen, die immer erst dann bestätigt werden können, wenn sich der Verdacht dahingehend bewahrheitet, „das der submediale Raum in seinem Inneren ‚eigentlich’ anders aussieht, als er sich auf der medialen Oberfläche zeigt“. 7

Anderton stellt also gewissermaßen die alten Gesetze wieder her indem er seinem Verdacht folgt, hinter dem Sichtbaren verberge sich die unsichtbare Subjektivität des submedialen Raums. Und auch Spielberg selbst spielt mit der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit des submedialen Raums, denn auch sein Film setzt sich zusammen aus Bildern, die mediale Oberflächen darstellen. So stellt auch Oliver Hüttmann in seiner Rezension zum Film auf „Spiegel Online“ fest:

„Jedes Detail und jeder Charakter spiegelt sich in einem anderen Aspekt des Films oder in denen anderer Filme. "Minority Report" ist ein monströses Konglomerat aus mäandernden Zitaten, Querverweisen, Rätseln, Referenzen, historischen Quellen und utopistischen Einfällen. Ein Dutzend Zukunftsforscher haben - wie Pre-Cogs-dem Perfektionisten Spielberg die Einzelteile für eine überwältigende Oberflächenschau geliefert. Der verzweigte Inhalt und die düstere Atmosphäre setzen sich hingegen zusammen aus klassischen Topoi des Film noir.“ 8

Fortsetzung folgt

1 Vgl. Boris Groys, Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien, Hanser: München/Wien 2000, S. 29.
2 Ebenda, S. 29.
3 Vgl. Ebd., S. 29.
4 Ebd., S. 29.
5 Ebd., S. 30.
6 Vgl. Ebd., S. 30.
7 Ebd., S. 220.
8 Oliver Hüttmann, „Leblos funkeln die Effekte“, http://www.spiegel.de/kultur/kino/0,1518,216778,00.html, Stand: 10.05.2009.

Samstag, 9. Mai 2009

Precrime – Die Überwachung der Zukunft

Science Fiction und Überwachung ergeben seit jeher ein schönes Brautpaar. Wenn zudem jemand wie Philip K. Dick die Vermählung plant, gesellen sich auch noch illustre Gäste wie Manipulation, Verschwörung und Doppeldeutigkeit auf die Intrigenhochzeit dazu. Eine Doppeldeutigkeit habe ich mir bereits im Titel erlaubt. „Die Überwachung der Zukunft“ ist selbstredend als eindeutig zweideutig zu betrachten: einerseits ist Precrime ein visionäres Polizeiverfahren, welches in einer alternativen Zukunft stattfindet, auf der anderen Seite wird die Zukunft kontrolliert, indem die Precogs sie voraussagen. Allerdings ist Precrime auch ein philosophisches Gedankenexperiment, ein Appell an unser Gewissen und eine moralische Zwickmühle. Der Diskrepanz zwischen einer gewaltfreien Gesellschaft und der Inhaftierung von Menschen, welche (noch) unschuldig sind, kann man in meinen Augen nicht neutral gegenüberstehen. In Dicks The Minority Report wird diese Problematik gleich zu Beginn in einem Dialog zwischen Witwer und Anderton angesprochen: „You’ve probably grasped the basic legalistic drawback to precrime methodology. We’re taking in individuals who have broken no law.“ (Dick 1987: 324), und weiter: „We claim they’re culpable. They, on the other hand, eternally claim they’re innocent. And, in a sense, they are innocent.”

Die große Frage, die ich mir nun stelle, lautet: Ist die Bestrafung für ein Verbrechen, das noch nicht begangen wurde, moralisch vertretbar? Ich sage nein. Der amerikanische Philosophieprofessor John Nicholas Williams hat hierzu einen interessanten Text unter dem Titel Beyond Minority Report: Pre-crime, Pre-punishment and Pre-desert verfasst, in dem er sich mit Begrifflichkeit und Rechtfertigung von präventiver Bestrafung auseinandersetzt und Argumente aufzählt, die für und dagegen sprechen. So erklärt er etwa, dass der Begriff „Bestrafung“ überhaupt nur für eine Tat verwendet werden kann, die bereits zurückliegt. (Williams 2009: 7) Doch geht auch bei ihm der philosophische Gedanke über die reine Begriffsbestimmung von Bestrafung hinaus, was in diesem Zitat sehr gut auf den Punkt gebracht wird: „Whether suffering is inflicted on those who are innocent or on those who are future offenders, the real issue is not whether we should call the infliction ‘punishment’ but rather whether it is morally justifiable. (Williams 2009: 8)

Genau darum geht es mir, nämlich um die moralische Rechtfertigung der Precrime-Überwachung.


(Wer sich für eine Weiterführung der Problematik von präventiver Überwachung interessiert, dem kann ich nur ans Herz legen, den vollständigen Artikel von John Nicholas Williams zu lesen. Zu finden ist dieser unter folgendem Link: http://www.mysmu.edu/faculty/johnwilliams/LatestPublications/Beyond%20Minority%20Report%20Version%20For%20Vienna_24_02_08.pdf)


Betrachten wir Precrime also von einem ethischen Standpunkt aus. Meiner Meinung nach kann die Ethik das Precrime-System nur verurteilen. Ich will meine Gedanken und Argumente hierfür in zwei Punkten zusammenfassen:


(1) Precrime ist fehlbar. Da der Mensch fehlbar ist, wird auch ein System, das von ihm verwaltet und kontrolliert wird, immer fehlbar sein. Als Anderton darauf angesprochen wird, ob womöglich schon einmal Unschuldige weggesperrt wurden, antwortet er, dass dies durchaus möglich sei. (Dick 1987: 333) Die Verantwortung, ein solches System zu leiten, ist zu groß für den Menschen. Vermutlich ein jeder Leser dieses Blogs hat schon einmal den Ausspruch „Im Zweifel für den Angeklagten“ gehört. Ist die Zukunft nicht absolut (und das ist sie in The Minority Report natürlich nicht, ansonsten hätte Precrime keinen Nutzen), so bleibt immer ein gewisser Restzweifel bestehen.


(2) Precrime beraubt den Menschen seines freien Willens. Gut, jetzt könnte jemand behaupten, „Hey, vergiss den freien Willen, wenn wir dafür in einer Welt ohne Gewaltverbrechen leben können.“ An sich ein vertretbarer Gedanke, doch ich denke, so einfach ist das nicht. Der freie Wille ist es doch, der den Menschen schlussendlich auszeichnet. Der Mensch muss die Freiheit besitzen, sich entscheiden zu können. Moral, Gewissen und Zweifel sind Grundpfeiler der Ethik und sie alle fußen auf Entscheidungen. Wenn der Mensch verurteilt wird, bevor er sich entscheidet, gibt es kein moralisches Wertesystem mehr. Eine Überwachung, die den Menschen in seinem freien Willen und seinen Entscheidungen nicht einschränkt, sondern beides gar nicht mehr zulässt, geht über den Begriff der Überwachung hinaus.


Doch ist es nicht nur die Bestrafung, es ist der reine Gedanke, in die Zukunft zu blicken, der eine gewisse Schwierigkeit mit sich bringt. Ein Witz: Kommt ein Precog zum Arzt, sagt er: „Herr Doktor, Herr Doktor, ich habe schwere Depressionen. Ich sehe täglich Mord und Totschlag, ich halte das nicht mehr aus. Was soll ich tun?“ Antwortet ihm der Arzt: „Tja, vielleicht sollten Sie in der Zukunft etwas kürzer treten.“

Ich denke, der Mensch sollte die Precogs nicht benutzen, um die Zukunft auszuwerten, und seien deren Voraussagen noch so präzise. Die Kenntnis der Zukunft und deren Interpretation ist eine zu hohe Last, und wie bereits erwähnt, eine Verantwortung, die das Vermögen des Menschen übersteigt.


Precrime, Überwachung, Kontrolle, welchen Begriff man nun auch verwenden mag, keiner ist der Weisheit letzter Schluss. Ist die Gesellschaft eine glücklichere, in der die vermeintliche Zukunft kontrolliert wird? Sorgt Precrime für Gerechtigkeit? Ich wage es zu bezweifeln. „Und wie wollt ihr Gerechtigkeit verstehen“, fragt der libanesisch-amerikanische Philosoph Khalil Gibran (Gibran 2005: 50), „wenn ihr nicht alle Taten im vollen Licht anschaut?“ Nur dort kann Gerechtigkeit blühen, wo Taten mit Bedacht gegossen, und nicht wo sie im Keim erstickt werden.

Ohne tödliche Gewalttaten, so scheint es, ist die Gesellschaft auch keine harmonischere. Würden die Menschen ohne Morde im Einklang leben, so wäre Precrime nach einiger Zeit überflüssig, da keine Intentionen für weitere Gewaltverbrechen bestehen würden. Doch dem ist nicht so. Precrime mag Morde verhindern, nicht aber den Mordgedanken. Oder um es mit den malerischen Worten Gibrans zu sagen: „Leute (...), ihr könnt die Trommel dämpfen und die Saiten der Leier lockern, doch wer soll der Lerche befehlen, nicht zu singen?“ (Gibran 2005: 55)

Precrime kann vielleicht die Zukunft ändern, doch keine Überwachung der Welt vermag es, an dem Wesen der Menschen zu rütteln. Ein Restzweifel bleibt.



Quellen:


Dick, P. K. (1987). „The Minority Report“, in: Ders. The Philip K. Dick Reader. New York: Citadel. S. 323-354.
Gibran, K. (2005). Der Prophet. 10. Aufl. Düsseldorf: Patmos.

Williams, J. N. (2009). „Beyond Minority Report: Pre-crime, Pre-punishment and Pre-desert“, in: Singapore Management University. Zugriff am 6.5.2009 unter http://www.mysmu.edu/faculty/johnwilliams/LatestPublications/Beyond%20Minority%20Report%20Version%20For%20Vienna_24_02_08.pdf