Dienstag, 23. Juni 2009

4. Das submediale Subjekt hinter dem Zeichenfluss

„Come on into the water!“
aus „Jaws“ (1975)

Boris Groys bezieht sich in „Unter Verdacht“ auch auf den Strukturalismus; gleichwohl unterscheidet er dabei zwischen ihm und den Poststrukturalismus. Seiner Ansicht nach operiert die Populärkultur in Form von Hollywood-Filmen so, daß sie sich, anders als der poststrukturalistische Diskurs es tut, nicht an einer „Desubjektivierung des Subjekts“ beteiligt: „Die Massenkultur der heutigen Zeit ist vor allem eine Kultur des radikalen Verdachts. Der dominierende philosophische Diskurs, der die Subjektivität leugnet, wirkt dagegen in erster Linie beschwichtigend.“ 1

Groys meint aus dem poststrukturalistischen Diskurs die Botschaft der Auflösung des Subjekts abzuleiten; dem gemäß verliert sich nämlich das Subjekt schon per se im medialen Zeichenspiel auf eine Weise, daß der unendliche Fluß der Zeichen nicht länger kontrolliert werden kann. Demnach kann es auch kein staatliches Subjekt mehr geben, das Kontrolle ausübt: „Eben darin besteht eigentlich die frohe, revolutionäre, optimistische Botschaft des poststrukturalistischen Denkens: Die Zeichen entziehen sich durch ständige Bewegung und Verschiebung ihrer Bedeutungen jeder bewussten Kontrolle seitens der Macht. Wer mit den Zeichen ständig mitfließt, ist frei – er entkommt dadurch jeder möglichen Kontrolle, Überwachung, Disziplinierung.“ 2

Der Ansicht des klassischen Strukturalismus, nach der das Subjekt imstande ist die Differenzen innerhalb eines Zeichensystems zu erkennen und benennen zu können, widerspricht der Poststrukturalismus angesichts der Feststellung, dass das Subjekt nicht im Stande ist, sein eigenes Sprechen zu reflektieren, „weil die Metasprache, die es benötigt, um eine solche Reflexion zu vollziehen, ebenfalls eine Sprache ist – die von der zu untersuchenden Objektsprache nicht eindeutig zu unterscheiden ist.“ 3 Daraus leitet Groys ab, dass das Subjekt immer schon zu spät zur Signifikation des Zeichens kommt, weil sich das Zeichenspiel bereits unmerklich verschoben hat, wenn es versucht zu seinem Sinn zu gelangen. 4

Der Homo Significans nach Roland Barthes, der sich als ein, den Zeichensystemen gegenüber mächtiges Subjekt positionieren kann, indem er sich seiner Signifikation bewusst ist 5, bleibt angesichts der Medien als Produzent unüberschaubar gewordener Differenzen eine Utopie. Das im „dunklen Meer der Signifikation“ schwimmende Subjekt ist im poststrukturalistischen Diskurs ohnmächtig. 6

Groys spricht davon, dass das Schwimmen mit dem Zeichenfluss einer Ekstase gleichkomme da es die Sprache und die ihr angehörigen Eindeutigkeiten auflöse. 7 Zugleich habe die „Philosophie des fließenden Sinnes“ zur Folge, dass sie sich, weg vom Subjekt der Überwachung, der Machtkontrolle und der Zensur, hin zur „unendlichen Ekstase des Marktes“ bewegt hätte. 8

Die in „Minority Report“ entworfene Zukunftsvision oszilliert nun zwischen zweierlei: Es gibt ein klassisches, orwellsches staatliches Subjekt der Überwachung und, schaut man sich das Produktionsdesign des Films an, eine Vielzahl fließender Zeichen: Die halb durchsichtigen Werbetafeln in der Shopping – Mall, Cornflakes – Packungen, auf denen Animationen ablaufen, das mit Händen steuerbare Interface oder die im Raum befindlichen Videoprojektionen. Darüber hinaus lassen sich Motive antreffen, die mit Wasser in Verbindung stehen: So befinden sich etwa die Precogs in einem Wasserbecken, als Anderton von metallenen Spinnen anhand neu eingepflanzter Augen identifiziert werden soll, sucht er vergeblich Schutz in einer Badewanne und sein Sohn geht im Zuge eines Tauchspiels in einem öffentlichen Schwimmbad verloren.

Georg Seeßlen hatte bereits darauf verwiesen, dass Wasser in den Filmen von Spielberg immer als etwas Trügerisches und Bösartiges entworfen werde 9 : Unter der Wasseroberfläche wartet das unsichtbare, bedrohliche Subjekt in Gestalt des weißen Hais, im Ozean die Enttäuschung über das nicht-auffindbare Subjekt in Gestalt der Mutter aus „A.I.“. Wasser deutet in „Schindlers Liste“ die nicht-darstellbare Vergasung in den Konzentrationslagern des Dritten Reiches an und auch die Gremlins werden bei Berührung mit Wasser zu anarchischen Monstern.

In „Minority Report“ ist der von Groys beschriebene Zeichenfluss ebenfalls anzutreffen. Aus ihm geht der Precrime – Überwachungsapparat praktisch als utopisch gedachte Institution hervor, welche die Zeichen am fließen hindern soll. Mit ihm soll die verloren gegangene Eindeutigkeit wiederhergestellt werden. Zugleich entpuppt sich diese Idee als Widerspruch, denn der Überwachungsapparat geht aus der Paranoia hervor, die vom Zeichenfluss geschaffen wird. So stellt auch Groys fest, dass der Fluss der Zeichen zwar die „Grenzen der subjektiven Kontrolle“ auflöse, aber dennoch auf Verfolgungswahn beruhe: „Im Großen und Ganzen kann es sich hier offensichtlich nur um ein Programm der äußersten Angst, der extremen Paranoia, des absoluten Verfolgungswahns handeln – denn nur derjenige, der sich ständig von einem verborgenen Subjekt beobachtet, verfolgt und bedroht fühlt, kann sich zum obersten Ziel setzen, dieser Beobachtung zu entweichen, jede Festlegung zu vermeiden, die eigene Position nicht anzugeben, ständig zu fließen und die Angaben über seine Befindlichkeit permanent zu ändern.“ 10

Die fließenden Werbebotschaften, für die Spielberg wegen ihres allzu plakativen Einsatzes kritisiert wurde, können (im wahrsten Sinne des Wortes) oberflächlich betrachtet als schlichtes Product Placement gewertet werden; in Wahrheit verbergen sie jedoch eine subversive Kritik 11 am unendlichen Fluß der Zeichen, der, laut Groys, immer auch einen unendlichen Fluss des Kapitals mit ein schließt:

„Damit erreicht die Philosophie des fließenden Sinns eine neue Stufe der Ekstase – nämlich die unendliche Ekstase des Marktes, der sich hier als verbotener Name des Ganzen ankündigt. Was als ein anti-autoritärer Diskurs intendiert wurde, der den Fluss der Sprache vom Subjekt der Überwachung, der Machtkontrolle und der Zensur befreien sollte, hat sich inzwischen als zeitgemäße Markt- und Managementstrategie entpuppt. [...] Übrigens schließt das unendliche Zeichenspiel das Spiel mit den Geldzeichen von Anfang an ein: Wo das unendliche Begehren fließt, fließt auch das Kapital. Eigentlich war die Philosophie des fließenden Sinns von Anfang an kapitalfreundlich-die Subversion galt vielmehr dem Staat und seinen in der Tradition verankerten Institutionen.“ 12

Die verheißungsvolle Botschaft von Spielbergs Film könnte demnach lauten, dass ein ungehinderter Fluss der Zeichen ein staatliches Subjekt heraufbeschwört wie es hier anzutreffen ist, denn „wie nachdrücklich und überzeugend man auch immer bereit ist, den Markt als fließend zu beschreiben, sitzt bei allen am Marktgeschehen Beteiligten die Angst vor einer verborgenen und insgeheim alles lenkenden Manipulation einfach zu tief, um ideologiekritisch entkräftet zu werden.“ 13 Der Zeichenfluss impliziert also das verborgene Subjekt hinter seiner Wasseroberfläche, obwohl es dergleichen zu verbergen beabsichtigt. Unter ihr wartet der weiße Hai, das bedrohliche Subjekt in Gestalt eines repressiven Überwachungsapparates, ähnlich wie das hinter der „medialen Oberfläche des Himmels verborgen“ bleibende Alien und offenbart dem Zuschauer die Möglichkeit ins „Innere des submedialen Raums der modernen Medien blicken [zu] können – um dort die uns drohende, unerbittliche Gefahr zu entdecken.“ 14

1 Groys, Unter Verdacht, S. 32.
2 Ebenda, S. 34.
3 Ebd., S. 36.
4 Vgl. Ebd., S. 36 f.
5 Vgl. Roland Barthes, „Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart“, Die strukturalistische Tätigkeit, Hg. Dorothee Kimmich, Rolf Günter Renner, Bernd Stiegler, Reclam: Stuttgart 1996, S. 221.
6 Vgl. Groys, Unter Verdacht, S. 36.
7 Vgl. Groys, Unter Verdacht, S. 37 ff.
8 Ebenda, S. 38.
9 Vgl. Georg Seeßlen, Steven Spielberg und seine Filme, Schüren: Marburg 2001.
10 Groys, Unter Verdacht, S. 41.
11 Dass Steven Spielberg hochgradig subversive Blockbuster dreht ist ein Streitpunkt innerhalb der Filmkritik. Ich persönlich kann mich dieser Ansicht jedoch nur anschließen. Ob sein erfolgreiches Debüt „Duell“, eine Allegorie auf „Death of a Salesman“ oder „War of the Worlds“ als Kritik an der imperialistischen Invasionspolitik von George W. Bush; Spielbergs Blockbuster implizieren hinter ihrem Effektgewitter immer auch ein dezidiert politisches Anliegen.
12 Ebenda, S. 38 ff.
13 Vgl. Ebd., S. 41.
14 Ebd., S. 76.


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