Samstag, 20. Juni 2009

Mensch, Kontrolle, Freiheit – Von Dänemark bis Dystopia

The Unknown Citizen


(To JS/07 M 378
This Marble Monument
Is Erected by the State)


He was found by the Bureau of Statistics to be

One against whom there was no official complaint,

And all the reports on his conduct agree

That, in the modern sense of an old-fashioned word, he was a

saint,

For in everything he did he served the Greater Community.

Except for the War till the day he retired

He worked in a factory and never got fired,

But satisfied his employers, Fudge Motors Inc.

Yet he wasn't a scab or odd in his views,

For his Union reports that he paid his dues,

(Our report on his Union shows it was sound)

And our Social Psychology workers found

That he was popular with his mates and liked a drink.

The Press are convinced that he bought a paper every day

And that his reactions to advertisements were normal in every way.

Policies taken out in his name prove that he was fully insured,

And his Health-card shows he was once in hospital but left it cured.

Both Producers Research and High-Grade Living declare

He was fully sensible to the advantages of the Instalment Plan

And had everything necessary to the Modern Man,

A phonograph, a radio, a car and a frigidaire.

Our researchers into Public Opinion are content

That he held the proper opinions for the time of year;

When there was peace, he was for peace: when there was war, he went.

He was married and added five children to the population,

Which our Eugenist says was the right number for a parent of his

generation.

And our teachers report that he never interfered with their

education.

Was he free? Was he happy? The question is absurd:

Had anything been wrong, we should certainly have heard.


(W. H. Auden, 1940)


Dieses, in meinen Augen, grandiose, vor Ironie nur so strotzende Gedicht des anglo-amerikanischen Dichtes W. H. Auden soll als Ausgangslage dienen für die große Überlegung, die auch das Leitmotiv in Philip K. Dicks Werk darstellt: Was ist der Mensch? Sind wir wirklich nur namenlose Bürger, die ihre Existenz dem großen Kontrollsystem unterordnen? Oder gibt es da unter Umständen noch etwas anderes, das uns menschlich macht? Freiheit? Glück? Aus Sicht des Staates selbstverständlich eine absolut verzichtbare Fragestellung. Wie Auden am Ende seines Gedichtes fragt: war dieser mustergültige, vorbildhafte Staatsdiener glücklich oder frei? Welch absurde Frage! Schon wahrhaft erstaunlich, wie aktuell dieses knapp siebzig Jahre alte Gedicht auch heute noch ist, und wahrhaft erschreckend, wie gut es sich auf das Bild eines totalitären Regimes in Dystopien aus Buch und Film übertragen lässt.

Der Bürger in The Unknown Citizen ist ein meinungs- und gedankenfreies Wesen, geformt von dem System, eingenommen von seiner Arbeit. Die bedingungslose Anpassung, welche ihn zum perfekten Schwiegersohn des allmächtigen Muttersystems macht, beraubt ihn schließlich seiner Menschlichkeit. Auden weist eindringlich auf die Gefahr hin, welche von einem System ausgeht, das eine solche Kontrolle und Überwachungsmacht entwickelt hat, dass es dem Volk einen der Aspekte nimmt, der uns zum Menschen macht: nämlich die Freiheit. Natürlich, Freiheit ist stets begrenzt und für den Menschen auch niemals völlig greifbar. Gefühl und Dankbarkeit des Freiseins gehen Hand in Hand dem Wissen um ihre Grenzen. „Alles und jeder ist an Zwänge gebunden.“, betont der geniale Filmemacher Andrej Tarkowskij (1996: 188), „Wenn man nur einen einzigen Menschen unter den Bedingungen völliger Freiheit sehen könnte, dann würde der einem Tiefseefisch auf dem Trockenen gleichen.“ Vermutlich wird sich die wahre und volle Bedeutung dieses komplexen Begriffs dem Menschen auch niemals ganz erschließen. Nichtsdestotrotz muss aber die reine Vorstellung von Freiheit immer gegeben sein, damit der Mensch sich darauf stützen kann.

Blicken wir noch einmal auf The Unknown Citizen: Es ist hier doch ein sehr pessimistisches Bild der Gesellschaft, das Auden mit viel Ironie zeichnet, doch ist es wohl gar nicht allzu weit von der Realität entfernt (man munkelt, dass Philip K. Dick dieses Gedicht neben Bibel und Erste-Paranoia-Set unter seinem Kopfkissen aufbewahrte). Zahlreiche Propheten haben immer wieder das Ende der Welt vorausgesagt – ohne großen Erfolg. Die düsteren Zukunftsvisionen einiger Science-Fiction-Autoren haben sich da schon weitaus präziser bewahrheitet.


Doch wie soll man nun schlussendlich zum Konfliktthema der systematischen Überwachung stehen? Ja mit einem aber, oder nein mit einem wenn? Brauchen wir eine oder sollte man sie verbieten? Eine wichtige Frage. Ich meine: egal, ob wir es mit Überwachung im demokratischen Alltag, in brutaler Realität oder grausamer Fiktion zu tun haben – es ist nicht die Überwachung, die unmoralisch ist, es ist stets der Mensch, der sie als solches benutzt. Es gibt keine gewissenlose Überwachung, es gibt nur gewissenlose Menschen. Man muss nicht in den dunklen Zukunftsgeschichten der Science-Fiction-Literatur blättern, um zu dieser Ansicht zu kommen, es genügt ein kurzer Ausflug in die Vergangenheit. Niemand geringeres als William Shakespeare ist es, der schon vor vierhundert Jahren diesen zeitlosen Gedanken aufgestellt hat, indem er seinen Hamlet solch große Worte sprechen lässt (Shakespeare 1603/1966: 42):


Hamlet. So steht der jüngste Tag bevor; aber eure Neuigkeit ist nicht wahr. Laßt mich euch näher befragen: worin habt ihr, meine guten Freunde, es bei Fortunen versehen, dass sie euch hierher ins Gefängnis schickt?

Güldenstern. Ins Gefängnis, mein Prinz?

Hamlet. Dänemark ist ein Gefängnis.

Rosenkranz. So ist die Welt auch eins.

Hamlet. Ein stattliches, worin es viele Verschläge, Löcher und Kerker gibt. Dänemark ist einer der schlimmsten.

Rosenkr. Wir denken nicht so davon, mein Prinz.

Hamlet. Nun, so ist es keiner für euch, denn an sich ist nichts weder gut noch böse; das Denken macht es erst dazu. Für mich ist es ein Gefängnis.


Eine Überwachung also, ohne Gedanken, ohne Menschen dahinter, ist noch nichts Falsches. Ist ein Überwachungsstaat ein Gefängnis, so kann auch die ganze Welt eines sein. Alles entsteht im Denken. Und solange es kein einheitliches menschliches Denken gibt, wird es immer Überwachungsmittel geben, hinter denen ein guter Gedanke steckt, und gleichzeitig werden stets Kontrollsysteme herrschen, welche nur zur Ausnutzung anderer dienen. Das System kontrolliert die Menschen doch nur, wenn der Mensch das System kontrolliert.

Gedanken. Handlungen. Konsequenzen. Es ist ein Kreislauf, der auf Gegensätzen beruht, der die Welt im scheinbaren Gleichgewicht hält.


Und vielleicht ist der Mensch am Ende genau das: ein ewiges Paradox. Ein Wesen der Widersprüche und der Extreme. Er haust in seinen Gegensätzen, wie Zufall und Schicksal in einer Wohngemeinschaft. Der Mensch ist gut und der Mensch ist schlecht. Er hegt seinen Trieb zur Selbsterhaltung genauso, wie er seine Selbstzerstörung forciert. Und wenn eines Tages die Maschinen rebellieren und sich gegen uns auflehnen, dann war es allein der Mensch, der sich die Schaufel für sein Grab gekauft hat. Philip K. Dick war wohl einer der ersten, die das gewusst haben.


Quellen:


Auden, W. H. (1940). „The Unknown Citizen“, poets.org. Zugriff am 12.06.2009 unter http://www.poets.org/viewmedia.php/prmMID/15549

Shakespeare, W. (1966). Hamlet. Stuttgart: Reclam.

Tarkowskij, A. (1996). Die versiegelte Zeit: Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poesie des Films. Berlin: Ullstein.

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