Mittwoch, 24. Juni 2009

5. Ich zweifele, also bin ich. Der medienontologische Zweifel und das Objekt.

„Im Blick des Anderen erfahre ich den Anderen als Freiheit, die mich zum Objekt macht.“
Sartre, „Das Sein und das Nichts“

Im weiteren Verlauf seines Werkes widerspricht Groys der Theorie des unendlichen Zeichenflusses, denn Medienträger beschränken sich in ihrer materiellen Beschaffenheit auf zwei Operationen, nämlich auf Speicherung und Übertragung: „Nirgendwo trifft man auf unendliche Mengen von Zeichen oder auf unendliche Zeichenströme – und zwar aus dem einfachen Grund, weil es keine Medienträger gibt oder geben kann, die unendlich große Kapazitäten hätten, um unendliche Mengen von Zeichen zu speichern oder zu übertragen.“ 1 Auf der operationellen Ebene muss daher ein Subjekt vermutet werden, „das mit den Zeichen wie mit Dingen umgeht, ohne ihre möglichen Bedeutungen zu berücksichtigen.“ 2
Diese anto-ontologische Einsicht vertritt auch die „Theorie des Fließens“, die das submediale Subjekt lediglich für eine Illusion und die Annahme, die sichtbaren Zeichen seien das Ergebnis seiner böswilligen Manipulation, für eine Projektion der Ängste des Betrachters hält. 3 Groys widerspricht dem jedoch: „Dieser Verdacht aber lässt sich prinzipiell nicht entkräften, weil der submediale Raum, der durch diesen Verdacht eröffnet wird, für den Betrachter der medialen Oberfläche – zumindest während der Zeit der Betrachtung – prinzipiell nicht zugänglich ist. Es stehen dem Medienbetrachter also keine Mittel zur Verfügung, den medienontolgischen Verdacht zu bestätigen oder zu widerlegen. Und gleichzeitig kann der Betrachter den Verdacht auch nicht einfach ausschalten, verdrängen oder unterdrücken – denn dieser Verdacht ist für die Medienerfahrung als solche konstitutiv.“ 4
Die materielle Beschaffenheit der Zeichenträger als objektiv verifizierbare Funktion des Medienträgers widerspricht dabei keineswegs dem eher subjektiv anmutenden Verdacht:

„Vielmehr ist der medienontologische Verdacht im phänomenologischen Sinne ‚objektiv’, weil er sich bei der Betrachtung der medialen Oberfläche notwendigerweise einstellt. [...] Da der innere, submediale Raum strukturell vor uns verborgen ist, können wir gar nicht anders als verdächtigen, projizieren, unterstellen. [...] Da der (medien)ontologische Verdacht sich wissenschaftlich, objektiv, beschreibend weder bestätigen noch widerlegen lässt, bildet er seine eigene Realität – und dementsprechend auch seine eigenen Kriterien der Wahrheit.“ 5

Die Wahrheit der Medienontologie muss der wissenschaftlichen Wahrheit zwangsläufig widersprechen. Denn sie ist keine an statistischen Regelmäßigkeiten festzulegende, sondern eine, aus der Unregelmäßigkeit des Ausnahmezustands entstehende Wahrheit: „Diese Wahrheit offenbart sich ihm in gleicher Weise, wie sich ihm die menschliche Subjektivität in Augenblicken offenbart, in denen sich ein Mensch im Moment einer freiwilligen, erzwungenen oder unbewussten Aufrichtigkeit verrät, preisgibt, zum Geständnis genötigt sieht.“ 6 Das Warten auf eine Offenbarung des Subjekts betrachtet Groys als konstitutiv für die Existenz des Subjekts im Inneren der Welt:

„Der Weltbetrachter kann sich nicht damit begnügen, die Zeichen auf der Weltoberfläche bloß zu registrieren – vielmehr wartet er darauf, dass die Welt ihm endlich ein Geständnis macht. Dieses Warten konstituiert das Innere der Welt als ‚Subjekt’. Es handelt sich also nicht darum, dass die Welt in ihrem Inneren ‚tatsächlich’ ein Subjekt ‚ist’, sondern allein darum, dass wir die Welt auf eine Art und Weise verdächtigen müssen, auf die wir nur das Subjekt verdächtigen können.“ 7


Laut Groys hat der ontologische Verdacht die gesamte Geschichte des Abendlandes bestimmt: Hat Plato die Angst vor dem Verborgenen zu stillen beabsichtigt, ist die „Philosophie am Anfang der Neuzeit dank Descartes zu dem Schluss gekommen, dass der ontologische Verdacht nicht ‚in der Welt’, sondern allein ‚im Betrachter’ sein kann.“ 8 Demnach kann der Weltbetrachter den ontologischen Verdacht mittels des „erkenntnistheoretischen Zweifels“ auf eigenständige Weise verwalten:

„Für Descartes besitzt der ontologische Verdacht nicht mehr die Kraft, die Seele des Betrachters ohne dessen Willen, ohne dessen bewusste Zustimmung zu erfassen. [...] Der wissenschaftlich denkende Betrachter zweifelt, untersucht und kommt auf diesem Weg zu bestimmten Erkenntnissen. Diese Erkenntnisse sind aber nur dann ‚seine’ Erkenntnisse, wenn er selbst darüber entscheiden kann, wann sein Zweifel beginnt und wann er endet.“ 9

Der „erkenntnistheoretische Zweifel“, der ein autonom handelndes Subjekt voraussetzt, impliziert aber immer auch eine eigennützige Haltung des Weltbetrachters, der seinen Zweifel nur so weit heranreifen lässt, wie er ihm zur Erkenntnis seiner sozialen Unabhängigkeit verhilft. Der Protagonist aus „Minority Report“ lässt sich insofern als kartesianische Inkarnation des erkenntnistheoretischen Skeptikers bezeichnen, denn wie „fast immer in einem amerikanischen Film, wird dieser böse idealistische Traum [der Traum des Antagonisten , der uneigennützig handelt um Sicherheit und Wohlstand zu garantieren, Anm.] vom guten Helden zerstört, der immer nur seine egoistischen Interessen verfolgt und damit die Realisierung der Utopie verhindert.“ 10

Nun räumt Groys jedoch ein, der Zweifel sei weder durch klare Evidenz abschließbar, noch ließe sich der Entschluss über seinen Anfang bestimmen. Der Zweifel tritt viel eher unangekündigt ein, ergibt sich von selbst und erfasst den Weltbetrachter wie eine Angst: „Der Zweifel, von dem man erfasst wird, ist nämlich kein erkenntnistheoretischer Zweifel mehr, sondern vielmehr der paranoide, unabweisbare, ontologische Verdacht, der sich nie beenden lässt.“ 11 Der ontologische Zweifel, wie Descartes behauptet, kann sich also nicht „im Betrachter“ sondern muss sich „in der Welt“ befinden: „Der Verdacht ist, wenn man so will, subjektiv – aber sein Subjekt ist das Innere des submedialen Raums, der unter Verdacht steht. Der Betrachter ist dagegen kein Subjekt des Verdachts – sondern nur sein Opfer, sein Objekt.“ 12

Die zukünftigen Straftäter in „Minority Report“ sind insofern als Opfer der Bilder, als Opfer der sie zu Objekten machen Subjektivität des submedialen Raums zu sehen. Sie können aus dem submedialen Raum heraus überwacht werden; indes sind die Überwacher das Subjekt aus dem submedialen Raum, während der Verdacht, den sie hegen, den Oberflächen entspringt, die sie von den Precogs erhalten. Hier wird also eine Vision entworfen, nach dem sich der ontologische Zweifel in beidem befindet: „Im Betrachter“ und „in der Welt“.

1 Groys, Unter Verdacht, S. 45.
2 Ebenda, S. 46.
3 Vgl. Ebd., S. 50.
4 Ebd., S. 50.
5 Ebd., S. 52.
6 Ebd., S. 52.
7 Ebd., S. 54.
8 Ebd., S. 55.
9 Ebd., S. 56.
10 Vgl. Groys, Groysaufnahme, S. 64 f.
11 Groys, Unter Verdacht, S. 56.
12 Ebenda, S. 56.

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